Zum Inhalt springen

Joh. Lening: 1. ev. Pfarrer in Melsungen

In der Wikipedia steht: Herkunft und Jugend sind unbekannt. Ab 1514 verbrachte er 13 Jahre als Mönch in der Kartause bei Gensungen. Dann wechselte er zu den Reformatoren und erhielt das ev. Pfarramt in Melsungen. Sein Landesherr konsultierte ihn in heiklen Fragen. Diverse Beratungen und Absprachen waren u.a. nötig, weil sich Philipp I., genannt der Großmütige, diverse Probleme als Bigamist einhandelte.
Dieter Hoppe übersetzte die interessante, in Latein geschriebene Autobiographie des Johannes Lening aus dem Marburger Staatsarchiv. Die verwendete Quelle zeigt auch, dass die Wikipedia in Sachen Herkunft und Jugend ergänzt werden könnte.

Dieter Hoppes freie Übersetzung der Autobiographie des Johannes Lening

[In eckigen Klammern = Ergänzungen des Übersetzers]

des ersten evangelischen Pfarrers in Melsungen
und des „heimlichen Bischofs“ von Hessen
und zeitweiligen Beraters von Philipp dem Großmütigen

Original: Hess. Staatsarchiv Marburg, 22 a, Kirchensachen 8, Reg. Kassel, Melsungen

Der Text ist in einem gedrechselten und verschachteltem humanistischen Latein geschrieben – ohne Absätze.

Der lateinische Originaltext ist veröffentlicht durch Alfred Uckeley in: Beiträge zur Hess. Kirchengeschichte Bd. 16, Darmstadt 1941, Festschrift für Wilhelm Diehl, S. 93:

Die Selbstbiographie des Melsunger Pfarrers Johannes Lening

[Lenings Herkunft]

Johannes Lenick [!], Melsunger Pastor, wurde in Butzbach im Jahre 1491 von Christi Geburt aus gerechnet am Valentinstag [14. Februar] vormittags zwischen der neunten und zehnten Stunde geboren. Sein Vater war Johannes Leninck, Bürger und Zentgraf in Butzbach. ( Er trug den Beinamen Knolle.) Seine Mutter Margarete Neurath war eine Tochter des in Kirchgöns wohnenden Zentgrafen von Hüttenberg Heinrich Naurath [Neurath].

Lenings Großvater väterlicherseits war Johan Lenick, Bürger und Patrizier in Frankfurt. Er heiratete eine Butzbacherin aus der Familie Bernshuser, zog nach Butzbach und bekam dort einen Sohn, Lenings Vater, als einzigen Erben seines Vermögens. Lenings Großvater starb bald, die Großmutter heiratete erneut. [Sie behielt zunächst die Verfügung über das gesamte Vermögen, so dass Lenings Vater sich nach einem Lebensunterhalt umschauen musste.] Lenings Vater, fast noch ein Waisenknabe, gelangte durch glückliche Umstände in den Dienst eines Berittenen beim Grafen von Königstein. In dessen und der des Grafen von Eppstein Gefolgschaft und Ritterschaft verblieb er bis über sein vierzigstes Lebensjahr hinaus; dann endlich erhielt er das väterliche Erbe und wurde daraufhin Zentgraf [Schultheiß] in seiner Vaterstadt. Mit der schon erwähnten Margarete Naurath zeugte er neben anderen Kindern Johannes Lening unter günstigen Voraussetzungen, dem Vater an Körper und Geist nicht unähnlich [d.h. :er war von grober und klotziger Gestalt].

Andererseits war Lenings Großvater mütterlicherseits, wie oben erwähnt, Heinrich Naurath in Hüttenberg, Zentgraf des Landgrafen Heinrich, der im Besitz der Oberherrschaft über Marburg war. Dieser Heinrich Naurath stammte  mit seinem Bruder Konrad, Schultheiß in Gießen, aus der Eifel. Ihr Vater wurde in der Grafschaft Katzenellenbogen erschlagen und ließ die Jungen als Waisen zurück. Als diese endlich zu kräftigen Rittern herangewachsen waren, wollten sie die Ermordung ihres Vaters rächen. Von der Burg Reifenberg [im Taunus] aus verheerten sie solange die Herrschaft Katzenellenbogen, bis der Graf sich gezwungen sah, mit ihnen Frieden zu schließen. Lening hörte noch als kleiner Junge von seinem Großvater mütterlicherseits, er sei zu ebendieser Zeit zusammen mit seinem Bruder [Konrad] mit sieben Fürsten und Grafen in Fehde gelegen. Im Jubeljahr zogen die zwei Brüder nach Rom, um Buße zu tun. [Mit Jubeljahr ist das Jahr eines Ablasses gemeint. Nach Dieter Wolf, Dorfgeschichten im Überblick, lässt sich heute nicht mehr feststellen, ob es sich dabei um den Ablass des 5. Jubiläumsjahres  unter Nikolaus V. = 1450 oder um den des 6. Jubiläumsjahres unter Sixtus IV. = 1476 handelt.] Die Brüder versöhnten sich mit allen, so dass Hessens Landgraf beide wieder in Dienst nahm; der eine wurde in Gießen, der andere in Hüttenberg mit dem Amt eines Schultheißen [Zentgrafen] betraut. Letzterer [Heinrich Naurath] erzählte [seinem Enkel Johannes Lening], bei der Belagerung von Neuss, zu der er von seinem Fürsten geschickt wurde, habe er auch einmal Pferdefleisch gegessen. Lenings Großmutter mütterlicherseits war eine Giessenerin.

[Lenings Ausbildung]

Im Übrigen brachte ihm sein Vater das schulische Lernen bei. In seiner Heimatstadt [Butzbach] erlernte er die Anfangsgründe des Lesens und Schreibens. Obwohl noch allenthalben eine auffallende Unbildung herrschte, hatte er das Glück, seinen Mitbürger und Verwandten Heinrich Beyming zum Lehrer zu bekommen, (der in Emmerich die Grundlagen einer feineren Literatur und schönen Künste [Metrik, Logik] empfangen hatte). Unter ihm machte er so weite Fortschritte, dass er sich im Aufsatz [in Briefform], Gesang und Verskunst sowie in der Logik vervollkommnen wollte. Mit 17. Jahren ging er nach Erfurt. Dort hörte er Erasmus Hessus und andere Professoren mit umfangreicheren Kenntnissen der Literatur und studierte sie.

[Anfänge seiner Tätigkeit]

Nach zwei Jahren kehrte er nach Hause zurück [1510]. Dort blieb er zwei Jahre und unterrichtete als Kollege seines früheren Lehrers Beyming die Jugend. Anschließend leitete er  1 ½ Jahre die Schule in [Ober]-Ursel.

[Eintritt ins Kloster]

Es erfüllte ihn aber ein Verlangen danach, den Verführungen der Welt, den Fallstricken des Teufels und der Gemeinschaft einer verführerischen Jugend zu entkommen. Er trat daraufhin aus freien Stücken in den sehr strengen Mönchsorden der Kartäuser ein, [den er anscheinend in Erfurt kennen gelernt hatte.] Er zog in das Kloster Eppenberg in Hessen in seinem 23. Lebensjahre. [Das Kloster war seit 1440 mit Kartäusern aus Erfurt besetzt, die es bis 1527 nach der Homberger Synode und der Auflösung des Klosters und der Abfindung der Mönche innehatten.] Bei diesem Orden verblieb er 12 Jahre lang. Dort widmete er sich Übungen der Frömmigkeit, guten Handschriften und der Theologie, besonders den alten Kirchenlehrern Augustinus, [Pabst] Gregor, Bernhard [von Clairvaux], und auch [Johannes] Bonaventura und [Johannes] Gerson. Durch glückliche Fügung gelangte er zur Kenntnis der Schriften von Erasmus [von Rotterdam], [Ulrich von] Hutten, [Martin] Luther und [Philipp] Melanchthons. Er fing an, die Wahrheit und aufrichtige Religiosität immer stärker zu lieben, das mönchische Leben aber und jede Heuchelei abzulehnen und zu hassen.

[Austritt aus dem Kloster, Pfarramt in Melsungen]

Schließlich verließ er mit Zustimmung und Billigung des Landgrafen Philipp von Hessen die Kartause. [Diese wurde nach der Homberger Synode 1527 aufgelöst und diente Philipp dem Großmütigen als fürstliches Jagdschloss.] Zur Zeit des Bauernkrieges zog Lening nach Melsungen [1525]. Durch die ihm von Gott verliehenen Gaben (durch stumme Lehrer [Handschriften und Bücher] ) führte er die dortige Gemeinde mit der Nahrung des göttlichen Wortes bis zum Jahre 1564. In diesem Jahr schrieb er diese Autobiographie. Er ist jetzt 74 Jahre alt. Obwohl er wegen der Französischen Krankheit [Syphilis], die ihm einst den Verlust des weichen Gaumens und des Zäpfchens einbrachte, beim Sprechen stark behindert war und deshalb auch nur schwer zu verstehen war, so glich Gott doch diesen Nachteil durch ein besonderes Geschenk aus, so dass er nicht nur von seiner Gemeinde als auch vom Kurfürsten selbst einmal in Melsungen, dann wieder in die benachbarten Orte gerufen wurde. Dort wurde er regelmäßig, gern und aufmerksam gehört. Wegen der Freiheit der ausgesprochenen Wahrheit brachte es ihm Dank ein, dann wieder erfuhr er Beleidigungen und Unwillen, je nachdem wie sich die Stimmungslage der Menschen gleich darauf änderten.

[Selbstbeurteilung]

Weil Gott es so fügte, gelangte er beim Kurfürsten zu solcher Bekanntheit, Gnade und Wohlwollen, dass der Kurfürst seine Mitarbeit nicht selten nicht nur in Fragen der Religion sondern auch bei anderen Angelegenheiten nutzte. Seine Gnade und Gunst hat er niemals (ohne angeben zu wollen) zum Schaden von irgendjemand missbraucht; in den meisten Fällen nutzte er sie für sich selbst sehr wenig, umso mehr für andere für Gnaden- und Gunstbeweise. Er besaß ein Naturell und eine Veranlagung wie Horaz über sich selbst geschrieben hat.. Nichts hasste er mehr als Lüge, Heuchelei und Hochmut, andererseits war er verschiedenen nicht leichten Fehlern verfallen. Deshalb entwarf er für sich selbst folgende Grabinschrift [Übersetzung nach Uckeley, 1941] :

Lening ruht hier in der  Erde, der zur Zeit des Bauernaufstandes und in den darauf folgenden Zeiten
die segensspendenden Siegeszeichen des Kreuzes aufgerichtet hat.
Er gibt zu, er habe nicht mit gleicher Glut, wie er gelehret, auch. sein Leben geführt.
Nichts hat er also vorzubringen als nur das: Ach Gott, habe Erbarmen.

Die geheimnisvolle Deutung seines Grabmals (Übersetzung wieder  nach Uckeley, 1941):

Hell glänzend schimmert der Geist, durch den Stern des Heils geschmückt;
es leuchtet schon im „alten Adam“ in geringem Maße die Linie (die Andeutung davon).

Auf Deutsch [fügt er hinzu]:

Obwohl ich habe gelehret rein, ist meine Frömmigkeit noch gar klein.
Drum werde ich nur durch die Gnade des getröst, der mich mit seinem Tode hat erlöst.1

Auf Grund des oben Gesagten schätzte Lening von den antiken Kirchenvätern Augustinus am meisten; er hat ihn natürlich wie die anderen auch mit Kritik gelesen. Wenn er ihn nicht während seiner Zeit in der Kartause gelesen hätte, so hätte er Luther in den meisten seiner Streitschriften nicht ohne weiteres zugestimmt. Den Ruhm des Erasmus haben, was die Theologie betrifft, Luther und Melanchthon bei Lening verdunkelt. Von ihnen entfremdete die erkannte Wahrheit den Geist Lenings nicht wenig; wegen der Verteidigung der Bilder und wegen des Sakramentenstreits ließ die ihn erkannte Wahrheit von diesen zwei abrücken. Außerordentlich sagte ihm aber das Lehrmeinung zu von Zwingli, Ökolampadius, Bucer, Bullinger, Viretus, Cranmer, Märtyrer, Ridlei, W. Musculus, Lasko und Boquini3. Ihnen stimmt er in allem zu. In Vertrauen auf Gott wird er in ihrem Glauben und Ansicht sterben. Amen.

Anmerkungen

1. In Wirklichkeit hatte seine spätere nicht erhaltene Grabinschrift in der Melsunger Stadtkirche nach Überlieferung durch den Stadtschreiber Johannes Justus Till folgenden Wortlaut (in der Übersetzung von A. Uckeley):

Während Lening die heiligen Glaubenslehren viele Jahre unverfälscht behandelte,
erreichte ihn das Todesgeschick. Diese seine Glieder deckt in der Urne die kurze Sterblichkeit,
aber sein frommer Geist erschaut das Himmelreich. Jesu heilige Siege lehrend
ist Lening in das selige Reich des Himmels eingegangen. ]

2. Der Pfarrer Biel gibt in einem Artikel des Melsunger Tageblattes vom 11. Oktober 1929 (Nr. 239) zur 39. Jahreshauptversammlung des Hauptvereins des Evangelischen Bundes für Kurhessen und Waldeck die Übersetzung der Grabinschrift ähnlich aber etwas länger wieder. Der Text des Artikels klingt so, als ob die Urne Lenings noch in der Stadtkirche vorhanden wäre:

Während Lening die heilige Glaubenslehren viele Jahre hindurch reinen Sinnes behandelte, ereilte ihn das Todesgeschick. Seine Gebeine zwar deckt in der Urne
diese kurze Sterblichkeit, aber sein frommer Geist strebt zum Himmel empor. –

Suche die Jahreszahl seines Todes:
Jesus heiligen Sieg mit redlichem Herzen lehrend,
ging Lening ins himmlische Reich ein. (1565)

3. In seinem Brief vom 31. August 1561 an Bullinger schreibt Lening, in der Sakramentssache denke er wie Bucer, Zwingli, Calvin, Ökolampad, Farel, Cramner u.a.