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Vor 100 Jahren wurden geschichtliche Weichen gestellt

An Hitler und Stalin wird man sich auch in 1000 Jahren noch erinnern. Opfer, Beteiligte und indirekt Betroffene wie Oskar Hoppe werden dann meistens vergessen sein. Der 1. Weltkrieg begann vor 100 Jahren. Hitler und Stalin teilten die Reste der in der Folge untergegangenen Reiche auf. Ihre monströsen Taten wären ohne den 1. Weltkrieg nicht geschehen. Die folgende Katastrophe des 2. Weltkrieges endete unter anderem in der Teilung Deutschlands.
Dieter Hoppe war noch ein Kind, als Deutschland geteilt wurde. Jetzt gehört er zur kleiner werdenden Generation, welche direkte Kontakt zu Menschen hatte, die mit den damaligen Geschehnissen konfrontiert waren und die Erinnerungen im Internet veröffentlicht.

Zeitungen berichten jetzt, 100 Jahre nach dem Beginn der 1. Weltkrieges verstärkt über Ausstellungen: Beispiel aus Kassel. Dokumentationen werden öfter als sonst gezeigt.

Dieter Hoppe berichtete schon oft von Menschen, deren Namen nicht die Geschichtsbücher füllen. Gerade das macht diese Berichte interessant und führt zu weltweiten Kontakten zu Menschen, die an Schicksalen von direkt Beteiligten interessiert sind, wenn sie nicht in der 1. Reihe standen. Dieter Hoppe wurde von einem Verleger angesprochen, der einen späteren Melsunger Polizisten auf einem Denkmal für die Deutsche Schutztruppe (1. Weltkrieg) in Namibia gesehen hatte und diesen Namen im „gegoogelten“ Bericht von Hoppe wiederfand. Kürzlich wurde ich um die Herstellung des Kontaktes gebeten, weil ein französischer Professor auf eine Veröffentlichung von Dieter Hoppe über ein Gefangenenlager gestoßen war.

Heute sendete Dieter Hoppe mir folgenden Bericht aus den Nachkriegsjahren in der DDR. Wer sich nicht anpassen wollte hatte damals nur die Wahl zwischen Straflager oder Flucht über das noch nicht eingemauerte Berlin:

Hier die Schilderung von Dieter Hoppe zur plötzlichen Flucht seines Bruders aus der DDR:

Oskars Haftbefehl (in Halle a. d. Saale/DDR)

Mein älterer Bruder Oskar unterrichtete im Sommer 1958 im Chemieunterricht nach Lehrplan das Thema Atomkraft. Von seinem Direktor wurde ihm vorgeworfen, sein Unterricht ließe das richtige gesellschaftspolitische Bewusstsein vermissen. Er hätte darstellen müssen, während die Sowjetunion die Atomkraft (Kernkraft sagte man damals nicht.) ausschließlich zur friedlichen Nutzung zur Erzeugung von elektrischem Strom zum Wohle der Bevölkerung benutzte, würde die imperialistische und kapitalistische USA die friedliebende Sowjetunion mit der Produktion von immer mehr Atombomben bedrohen.

Mein Bruder antwortete ihm daraufhin, das wäre absoluter Blödsinn. Daraufhin erschien in seiner nächsten Chemiestunde eine Arbeiterabordnung aus einem Betrieb zusammen mit Mitgliedern der SED. Diese kanzelten meinen Bruder vor der Klasse im gleichen Sinne ab wie der Direktor zuvor. Sie warfen ihm u.a. vor, mit seiner sozialismusfeindlichen Unterrichtsweise würde er sich als Sabogent des amerikanischen Imperialismus betätigen.

– Das Wort Sabogent – zusammengesetzt aus Saboteur und Agent – war in den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts ein von der SED-Justiz und SED-Propaganda oft benutztes Wort. Der Vorwurf, ein Sabogent zu sein, führte immer zur Verurteilung, i.a mit anschließender Deportation in die SU. Der Verurteilte verschwand dann oft spurlos. Die Rechtsordnung der DDR kannte das Wort Saboteur nicht und es gab auch keine Beschreibung des Straftatbestandes. Der Westen nahm das Wort nicht zur Kenntnis. –

Mein Bruder ließ sich nicht ins Bockshorn jagen und antwortete den Gewaltigen der neuen Herrenklasse vor allen Schülern, was sie da sagten, wäre absoluter Unsinn und wissenschaftlich unhaltbar. Das war zuviel für die neuen Herrenmenschen. Am Nachmittag des gleichen Tages steckte jemand aus dem Polizeipräsidium meinem Bruder: „Für dich ist ein Haftbefehl ausgestellt. Morgen Nachmittag um 15 Uhr sollst du verhaftet werden.“

Meinem Bruder blieb nur ein Ausweg: die Flucht mit Frau und Kind.

Noch am späten Nachmittag informierte er seine Eltern. Diesen war klar, wenn ihr Sohn Oskar floh, waren sie wie bei der Sippenhaft der Nazis auch dran. Mein Bruder Wolfgang hatte ein gutes Jahr vorher fluchtartig die DDR verlassen müssen. Außerdem war kurz zuvor noch ein junger Mann, der bei meinen Eltern wohnte, über Westberlin in den Westen gegangen. Mein Vater hatte ihn noch begleitet, damit der Junge sicher über die Grenze kam. Natürlich erschien die Polizei bei meinen Eltern und wollte wissen, wo der junge Mann geblieben sei. Meine Eltern täuschten Unwissenheit vor, der junge Mann sei eines Tages fort gewesen, wo er geblieben sei, wüssten sie nicht. Das nützte meinem Vater aber nichts. Weil er das Verschwinden nicht angezeigt hatte, musste er Strafe zahlen.

Meine Eltern bereiteten noch am Abend ihre Flucht für den nächsten Tag vor. Die Untermieter meiner Eltern bemerkten abends die Unruhe in der Wohnung und fragten: „Ihr haut wohl ab? Dann hauen wir auch ab.“ Dass man sie u. U. zur Rechenschaft gezogen hätte, weil sie nichts gemeldet hatten, lag nahe.

Am nächsten Tag ging mein Bruder wie alle Tage zuvor mit seiner Aktentasche ganz normal zur Schule. Von der Schule lief er ohne weiteres Gepäck nur mit der Schultasche in der Hand zu Fuß zum Bahnhof. Dort bestieg er den Zug nach Berlin. In dem Zug saßen schon in einem anderen Wagon seine Frau mit Kind und in weiteren Wagen die Eltern und die Untermieter meiner Eltern. Ein kleiner Koffer wurde in einem weiteren Wagon ins Gepäcknetz gelegt.

Tatsächlich wurde dann um 15.00 Uhr die Wohnung meines Bruders aufgebrochen. Der Zug hatte zu dem Zeitpunkt Berlin noch nicht erreicht. Etwas später drang man auch in die Wohnung der Eltern und der Untermieter ein.